Nun, die Colonia Dignidad hat ja Ende der 1990 ziger Jahre weltweites Aufsehen erlangt und da wir gerade in der Nähe sind werden wir diesem Ort einmal aus der Nähe betrachten und uns selbst einen Eindruck verschaffen. Auf relativ kleinen Nebenwegen schlängeln wir uns durch die Landschaft, die hier überwiegend landwirtschaftlich genutzt wird. Später wechselt sie in eine hügelige, bewaldete Mittelgebirgsregion. Wir überqueren einen Rio Perquilauquién, wo auf der einen Seite noch die Reste der ehemaligen Brücke erkennbar sind und nach einigen Kilometern reichen wir dann das noch immer gut eingezäunte Gelände der Colonia Dignidad, das seit 1988 Villa Baviera (Dorf Bayern) heißt.
Der Eingang ist mit einem Kontrollposten versehen, der unsere Autonummer notiert und uns nach Aushändigung einer gebührenpflichtigen Eintrittskarte passieren läßt. Ein kleiner Teil des Geländes ist heute als Erholungs- und Freizeitpark hergerichtet und wird auch relativ gut besucht. Vor zehn Jahren wurde hier nur deutsch gesprochen, doch nachdem viele der ehemaligen Bewohner diesen Ort verlassen haben, kann die Arbeit nicht mehr von den Bewohnern allein bewältigt werden und so waren sie gezwungen Chilenen einzustellen. Daher ist die Umgangssprache nun Spanisch. Wobei selbstverständlich die Bewohner nach wie vor untereinander deutsch sprechen. Die landwirtschaftlichen Flächen laßt die Verwaltung heute von chilenischen Bauern bearbeiten.
Wir parken im Zentrum der touristischen Anlage. Im Hintergrund das neue Hotel. Davor eine der älteren Bewohnerinnen, die hier mit ihrem Elektodreirad munter durch die Gegend saust. Und sie ist nicht die einzige, die sich mit diesem Gefährt hier sicher und schnell bewegt. Diese Bewohner haben trotz ihres hohen Alters hier offenbar eine Aufgabe, denn zum Zeitvertreib sieht man sie nicht herumfahren.
Daneben ist heute ein Restaurant, welches damals der Versammlungsraum und gleichzeitig der Raum für Gottesdienste war. Die Inneneinrichtung ist auch typisch deutsch. Weiter links davon befindet sich das Wohnhaus von Paul Schäfer, dem Gründer dieser Anlage. Von hier hat man einen sehr schönen Ausblickblick. 2012 wurde der Gemeinschaftsbau zu einem Hotelbetrieb umgestaltet. Unter der Leitung eines der früheren Opfer, wirbt das „Hotel Baviera“ mit bayerischer Folklore.
Weiter links befinden sich mehrere kleine Einfamilienhäuser und Wohnungen der ehemaligen Bewohner, die noch hier geblieben sind. Dieser Bereich ist für Besucher nicht zugänglich. Die Schlafsäle, wo früher Männer, Frauen und Kinder getrennt schliefen, wurden in Wohnungen umgewandelt, in denen jetzt Familien leben. Selbst Eltern wurden damals von ihren Kindern streng getrennt.
Bei weiterem Durchstreifen dieser Anlage gelangen wir schnell zu dem kleinen Teich mit schönen Seerosen, der seitlich von dem Haus von Paul Schäfer gelegen ist und der heute einen schönen Erholungsplatz darstellt.
Das alles ist umgeben mit einer großen Apfelplantage, deren Äpfel auch wunderbar schmecken. Davon wird Apfelmost gemacht, der eingefroren bis lange in den Winter genutzt werden kann. So sind immer frische Getränke vorhanden. Ein kleiner Imbiß kann auch uns nicht schaden und so finden wir unter dem Sonnendach auch einen schattigen Platz.
Auf der Rückseite des Restaurants führt ein mit Weinreben überwachsener Laubengang zum Spielplatz, einem Schwimmbad und weiter abseits zu einer Art „Sauna“, einem Überdachten Platz, der mit einem heizbaren Wasserbottich versehen ist.
Der Laubengang als solcher führt allerdings als gerader Weg in das Dorf, das etwas abseits liegt. Bei einem Spaziergang erkennen wir hier noch einige Gebäude die heute nicht mehr voll genutzt werden. Teilweise sind auch einnige Gebäude schon abgerissen worden, wie man an den leeren Flächen unschwer erkennen kann. Neben leerstehenden Ställen, Scheunen, der Schusterei und Lagerräumen, befindet sich im Zentrum ein Kraftwerk zur Stromerzeugung mittels Dieselmotor, auch dieses ist jetzt außer Betrieb, weil die Kosten zu hoch sind, der Strom wird von einem Stromanbieter außerhalb des Dorfes bezogen. Reparaturwerkstätten für die diversen landwirtschaftlichen Geräte, Gärtnerei, Bäckerei, Getreidemühle und Geflügelzuchtbetrieb sind noch voll in Betrieb.
Uns fällt auf, daß alles sehr weitläufig angelegt worden ist, das paßt allerdings nicht so recht in die Vorstellung eines deutschen Dorfes, das eher kleinteiliger aufgebaut ist. Da Paul Schäfer diese Gelände erworben hatte, müßte also, so vermuten wir, daß schon einiges an Baulichkeiten vorhan-den gewesen sein mußte. Bei der vorherigen Nutzung spielten offensicht-lich die langen und breiten Wege keine große Rolle.
Von den ehemals ca. 350 Bewohnern leben jetzt noch ca. 120 in diesem „Dorf“. 1961 wurde die Anlage von ca. 30 km² Größe, bestehend aus gebirgigen Waldflächen mit eingebetteten Ackerflächen, die vermutlich größtenteils erst angelegt werden mußten, von dem charismatische Laienprediger Paul Schäfer erworben. Uns wurde verschiedentlich bestätigt, daß Schäfer so gut sonntags predigen konnte, daß man all die Schmach und Erniedrigungen, die man täglich ertragen mußte, vergaß. Unter den 350 Personen, die mit ihm damals aus Deutschland kamen um hier ein Leben der „Würde“ als religiöse Sekte zu führen, war die älteste eine Frau mit 70 Jahre, wie wir einem Grabstein entnehmen konnten, als wir den Friedhof besuchten.
Wir suchen uns einen Stellplatz vor dem „Wohngebäude“ von Carlos, der ehemaligen Schusterei, von dem wir auch einen Stromanschluß erhalten und können uns so von ihm etwas von der Historie erzählen lassen. Er ist mit 12 Jahren 1972 als chilenisches Waisenkind aus Santiago hier aufge-nommen worden. Spricht einwandfrei deutsch und hat die Zeit hier, relativ gut überstanden. Er wurde, wie er sagte von Schäfer in Ruhe gelassen. Wie er uns weiter berichtet war das Gelände damals stark eingezäunt und mit Wachposten versehen. Alles war mit versteckten Drähten gesichert, so daß bei einem Fluchtversuch die Wachposten sofort aufmerksam wurden und wußten wo sich der Flüchtling etwa befand. Einem oder zweien sollen die Flucht geschafft haben, Andere wurden immer wieder eingefangen oder von den Chilenen und sogar von der deutschen Botschaft zurückgebracht worden sein. Einem Wachturm in mitten des Dorfes konnten wir allerdings nicht erkennen.
Alle, auch Kinder ab 6 Jahren, mußten den ganzen Tag hart arbeiten. Eigentum gab es nicht. Alles mußte bei der Ankunft abgeben werden. Die Renten, die die Bewohner aus Deutschland bekamen wurden gleich von Schäfers Verwaltung einbehalten. Sie lebten wie in einem großen Freilandgefängnis. Die Angst die hier in dieser Kolonie geherrscht haben muß, ist noch immer bei einigen Bewohnern zu spüren, mit denen wir sprachen.
1998 hat sich Paul Schäfer nach Argentinien abgesetzt, als er polizeilich gesucht wurde und dort auf einem Anwesen abgeschieden gelebt, wo er bis 2005 ungestört zugebracht hat, bis man ihn endlich aufspürte. Er wurde dann in Chile verurteilt und ist 2010 mit 88 Jahren im Gefängnis von Santiago gestorben.
Wie uns berichtet wurde, haben aber nach dem Verschwinden von Paul Schäfer 1998, seine engeren Mitarbeiter das strenge Regime unbeirrt weitergeführt und die Menschen blieben weiterhin in Angst und Schrecken. Nach 2005 haben dann viele der ehemaligen Bewohner die Kolonie verlassen, sind entweder nach Deutschland zurückgekehrt oder haben sich in Chile irgendwo niedergelassen. Nach seinem Tod schließlich sind auch etliche Bewohner wieder hierher nach Villa Baviera zurückgekehrt und arbeiten hier in verschiedenen Bereichen, heute für den Tourismus dienen.
Es gab auch hier ein gutes Krankenhaus, wo alle Bewohner, auch aus der Umgebung kostenlos behandelt wurden, doch von einer ehemaligen Bewohnerin erfuhren wir, daß Schäfer die Gelder für die Behandlungen dafür von der Krankenkasse wieder einforderte. Es war nur ein äußerer Schein der Wohltätigkeit, der auch seine wirkung nicht verfehlte. Das Krankenhaus exestiert nicht mehr.
Heute gibt es hier noch ein Festzelt, wo Folklore vorgeführt wird und es auch für andere Veranstaltungen gemietet werden kann. Die Zeit scheint hier aber stehen geblieben zu sein, wie an der Ausstattung erkennbar ist.
Wir übernachten bei Carlos vor der Tür, der in der ehemaligen Schusterei da drinnen irgend wo wohnt. Wie er wohnte konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Den Blick, den wir in die Räumlichkeit werfen konnten, enthüllte uns legiglich den Eindruck eines sehr vollgestellten, verümpelten Zugangs zu weiteren hinten gelegenen Flächen.
Wie diese Unterdrückung heute noch immer hier vorhanden ist, erkennen wir daran, daß Carlos uns am nächsten Tag mitteilt, daß er uns leider keinen Strom mehr geben kann, weil er sonst gewaltigen Ärger bekäme. Ja, gestern bekam er Besuch von einer Frau, die mit einem Fahrad angeradelt kam und offensichtlich unser Elektrokabel bemerkte. Das mußte gleich unterbunden werden. Nun, wir wollen ja sowieso abfahren und konnten ihn beruhigen, das alles in Ordnung sei.
Wir verlassen den an sich freundlich ausschauenden Ort gegen Mittag und fahren den Weg zurück, da wir weiter nach Süden wollen. Ein eigentüm-liches Gefühl empfinde ich, das sich bei zunehmender Entfernung von der Colonia Dignidad immer klarer bemerkbar macht. Je weiter wir uns entfernen, desto stärker fühle ich einen gwissen inneren Druck, der von mir abfällt. Es erscheint so, als ob wir aus einem mit dunklen Wolken verhangenen Gebiet in eine strahlend sonnige Gegend reisen. Nach ca. 50 Km verblaßt dieser Eindruck und ich fühle mich wieder frei wie immer.
Weitere Infos zur Geschichte bietet Wikipedia hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Colonia_Dignidad